Das Grundgesetz ist eine Entfaltungsordnung
© Marco Urban / Stiftung Familienunternehmen
Berlin, den 26. Juni 2025. Was ist eine gerechte Gesellschaft – und wer trägt Verantwortung dafür? Diese Grundsatzfrage diskutierten hochkarätige Gäste im Haus des Familienunternehmens in Berlin: Ethikratsmitglied Nils Goldschmidt, Ex-Verfassungsrechtler Udo Di Fabio, Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe und Publizistin Ursula Weidenfeld. Anlass war die Vorstellung des neuen Interview-Bands „Gerechtigkeit: Wie wir unsere Gesellschaft zusammenhalten“ der Stiftung Familienunternehmen.
Die Diskussion nach einem kurzen Impulsvortrag von Prof. Di Fabio machte deutlich: Das Menschenbild des Grundgesetzes setzt auf Eigenverantwortung und freie Entfaltung – eine einheitliche Vorstellung von Gerechtigkeit liefert es nicht. Gleichzeitig zeigt sich: Eine barrierearme Marktwirtschaft schafft Chancen zur Teilhabe und gesellschaftlichen Stabilität.
Mit dem neuen Buch und einem aktuellen Gerechtigkeitsindex bringt die Stiftung Familienunternehmen das Thema aktiv in die öffentliche Debatte ein – denn Familienunternehmen sind Teil dieser Debatte, ob sie es wollen oder nicht. Prof. Goldschmidt, der die 26 Interviews für das Buch geführt hat, hielt ein Plädoyer für die soziale Marktwirtschaft. Er zeigte sich optimistisch, dass es gelingen wird, die Gesellschaft zusammenzuhalten.
Überraschend war der historische Blick von Prof. Plumpe. Die Frage nach Gerechtigkeit wurde in der vorindustriellen Gesellschaft ganz anders gestellt. Es ging darum, Gottes offenbartem Willen zu genügen und die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen, in einer von Knappheiten geprägten Welt. Erst die Produktivitätssteigerungen der Industriegesellschaft ließen materiellen Wohlstand zu und damit Verteilungsspielräume. Plumpe sieht somit den Kapitalismus nicht als Gegner, sondern als Voraussetzung der Gerechtigkeit.
Prof. Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen, beklagte, der Begriff Gerechtigkeit werde zunehmend populistisch instrumentalisiert. Das Buch der Stiftung sei dazu gedacht, den Begriff sachlich und in seinen verschiedenen Facetten aufzubereiten. Anlass: Familienunternehmen mit ihren eindrucksvollen Betriebsvermögen sind oft Angriffsfläche in der Gerechtigkeitsdebatte.
Aber sie sind bei dem Thema auch selbst kompetent, so Kirchdörfer. Familienunternehmen haben eine einzigartige Perspektive auf Gerechtigkeit. Sie bilden die Schnittstelle zwischen der sozialen Einheit Familie und der ökonomischen Einheit Unternehmen. Daraus erwächst eine Paradoxie: Gleichheit versus Leistungsgerechtigkeit. Denn in der Familie wird der Schwache gefördert, im Unternehmen der Starke.
Die Journalistin, selbst Buchautorin zum „doppelten Deutschland“, berichtete aus ihren Recherchen in Ost und West. Sie beobachtet ein gepflegtes Desinteresse des Westens an Ostdeutschland. Die dritte Generation nach der Wiedervereinigung bringe nun ihre „Differenzerfahrung“ zum Ausdruck. Das Gefühl aus den 90er-Jahren, nicht mehr am Steuerrad des eigenen Lebens zu sitzen, sei noch nicht überwunden.